Zipfelmützen und spitze Bärte

Lutin (Artist: godo)
godo: Lutin (Zwerg) [CC BY-SA 3.0]

Der Prototyp eines Zwerges, wie man ihn aus Sagen und Märchen des kontinentalen Mitteleuropas zu kennen glaubt, ist ein kleines Männchen mit (oft weißem) Bart, das eine (oft rote) Zipfelmütze trägt. Die Abbildung rechts zeigt einen typischen Vertreter dieses "klassischen" Zwergentyps: Ein Männlein mit einer spitzen roten Mütze und einem grauen langen Spitzbart, der in der Form quasi die Spiegelung der Mütze darstellt - womit der der Zwergenkopf im Umriss zu einer Raute wird. Im Ganzen erinnert der Habitus weitgehend an einen modernen Gartenzwerg. 

 

Im 21. Jahrhundert bevölkern Zwerge so ziemlich jedes Computerspiel aus dem Fantasy-Genre, und diese Zwerge sehen im Allgemeinen eher aus wie kleine stämmige Wikingerkrieger. Jedenfalls haben sie nichts mehr gemein mit dem gartengnomartigen Märchenzwerg, abgesehen vielleicht vom Bart. Haben die modernen Zwerge ihre Zipfelmütze abgeben müssen, weil sie im Kampfgemetzel des Rollenspiels als völlig unpassend erschien? Oder ist die spitze Kopfbedeckung überhaupt nicht zwergentypisch? Ein Attribut gar, das phantasiebegabte Illustratoren von Märchenbüchern in die Köpfe ihrer Leserschaft gebrannt haben?

 

Damit landet man bei einer ganz allgemeinen Frage: Wer hat sich eigentlich wann welche Zwerge wie vorgestellt?

 

Disney, Tolkien & Co.

Das Jahr 1937 hielt für die Ikonografie von Zwergen gleich zwei einschneidende Ereignisse bereit. In den USA brachten die Disney Studios den Zeichentrickfilm „Snow White and the Seven Dwarfs“ auf die Leinwand. Und in England publizierte J.R.R. Tolkien sein Fantasy-Abenteuer „The Hobbit or There and Back Again“, dessen Wirkung auf die Phantasie seiner Leser durch seine 1954/1955 erschienene Triologie „The Lord of the Rings“ noch potenziert wurde.

 

Disney und Tolkien ist es zu verdanken, dass sich in der Vorstellung von Millionen von Kinobesuchern und Lesern nicht nur ein bestimmtes Zwergenbild manifestierte, sondern dass Zwerge darüber hinaus (fälschlicherweise) als eine weitgehend homogene Gruppe von Wesen wahrgenommen wurden. Walt Disneys beeindruckende Animationsfilme prägten später auch noch das Bild anderer Naturgeister, etwa die kleine fliegende Elfe Tinkerbell in "Peter Pan" (auch die Hauptfigur ist als spitzohriger Waldgeist mit Robin Hood Käppchen angelegt), oder den Typus der guten Fee in "Cinderella" (Aschenputtel).

 

The Seven Dwarfs DisneyDisneys sieben Zwerge entsprechen  im Wesentlichen dem eingangs geschilderten klassischen Zwergentypus. Sie tragen Zipfelmützen und haben (bis auf Dopey) einen mehr oder weniger langen Bart. Sie wandern laut singend zur Arbeit und  sammeln laut die Schätze einer Edelsteinmine zusammen. Auch Tolkiens Zwerge graben nach wertvollen Metallen und Edelsteinen. Allerdings leben sie nicht in einer ärmlichen Hütte im Wald, sondern in großen Hallen unter den Bergen.  Tolkien hat viel Mühe darauf verwendet, seine Bewohner Mittelerdes als differenzierte und glaubhafte Figuren zu entwickeln.  In der  Beschreibung seiner Zwerge konnte er sich aber auch nicht so ganz vom klassischen Typus lösen. Nehmen wir als Beispiel den Beginn des Buchs "The Hobbits". Zwar hatte der Zwerg Dwalin, der als erster Besucher das Haus von Bilbos dem Hobbit betritt, eine recht extravagante Erscheinung:

 

It was a dwarf with a blue beard tucked into a golden belt, and very bright eyes under his dark-green hood. 

Es war ein Zwerg, dessen blauer Bart in einem goldenen Gurt steckte; und wache Augen leuchteten unter seiner dunkelgrünen Mütze hervor.

 

Doch schon der ihm nachfolgende Zwerg Balin hat ein völlig prototypisches Aussehen:

 

[… ] there was a very old-looking dwarf on the step with a white beard and a scarlet hood […]

da stand ein sehr alter Zwerg auf der Türschwelle, mit einem weißen Bart und einer scharlachroten Mütze

 

Die Verfilmung der Tolkienschen Romanvorlagen zeichnet freilich ein anderes, moderneres Bild des Zwerges. Peter Jackson präsentiert seine Zwerge als kleingewachsene stämmige Kämpfer, bewaffnet mit Äxten, Keulen und Schwertern. Sie tragen zwar einen Bart, jedoch nicht immer den typischen "alter weiser Mann"-Bart, wie etwa Gandalf der Zauberer. Und, was am wichtigsten ist: Sie tragen keine Zipfel- oder sonstige Mützen, sondern höchstens mal eine Kapuze oder einen Helm.

 

Hat also vielleicht Tolkien mit seinem selbst erdachten Zwergtypus einen Bruch im althergebrachten Zwergenbild etabliert, der später die Transformation zum modernen Kampfzwerg katalysiert hat? Oft wird behauptet, Tolkien hätte seine Zwerge auf die Dvergar der isländischen Saga-Literatur und der eddischen Dichtung modelliert. Diese Ansicht stimmt nur teilweise. Tatsächlich hat Tolkien die meisten seiner Zwergennamen (und auch Gandalf) einer eddischen Merkversreihe entnommen. Aber die mythologischen Zwerge der Edda sind im Kern doch ganz andere Figuren. Insbesondere sind sie bartlos, so wie auch die Zwerge der gesamten Saga-Literatur! Von Mützen ganz zu schweigen. In der skandinavischen Folklore findet man dagegen bärtige Wichtel mit Zipfelmütze, ganz ähnlich zu denen der deutschen Sagenwelt. Auch die britische Folklore ist sehr reich an kleinen Haus- und Naturgeistern, wobei es allerdings nicht immer ganz eindeutig zu klären ist, welche davon man zu den Zwerge zählen sollte. Dies hängt eng mit der Entstehungsgeschichte dieser Wesen zusammen, die einerseits in der inselkeltischen Mythologie wurzelt, und andererseits vom Zwerg des Mittelalterromans beeinflusst wurde. Tolkiens Zwerge sind ganz eindeutig von der mitteleuropäischen Folkore inspiriert und könnten auch direkt einem Märchen der Brüder Grimm entsprungen sein.

Vorsicht bei den Volkszwergen

Das Bild des "deutschen" Märchenzwergs ist einerseits von verschiedenen europäischen Volks- und Kunstmärchen beeinflusst, fusst andererseits aber auch auf  zahlreichen Volkssagen, die insbesondere in der Epoche der Romantik mit Eifer zusammengetragen wurden. Für die Volkskundler war mit der Verschriftlichung mündlicher Erzählungen bzw. der damit einhergehenden editorischen Überarbeitung auch die Suche nach Ordnung und vereinheitlichenden Strukturen verbunden. Weiterhin spielten sogar didaktische Aspekte eine Rolle. Die Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, die zwischen 1812 und 1858 herausgegeben wurde, ist hierfür ein gutes Beispiel. Im Wechsel der verschiedenen Neuauflagen wurden die Märchen ständig überarbeitet, entsprechend dem sittlichen Empfinden der Zeit geglättet, und vermeintlich undeutsche Motive entfernt. Wie der Titel „Kinder- und Hausmärchen“ bereits andeutet, gehörten nicht nur die Erwachsenen zur Zielgruppe der Grimmschen Märchensammlung. Anfangs hatten die Brüder sogar mit  dem Vorwurf zu kämpfen, dass sie ihre Geschichten nicht entsprechend kindgerecht aufbereitet hätten und den kleinen Lesern zu viele grausame Details aufbürdeten. Als Reaktion entstand einerseits neben der vollständigen Ausgabe auch eine gekürzte Fassung für Kinder; andererseits wurde aber auch an die Geschichten selbst Hand angelegt. Schon in der zweiten Auflage von 1819 heißt es in der Vorrede: 

 

„Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung.  Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht.“

 

 Einen solchen Glättungsprozess muss man immer berücksichtigen, wenn man von den Zwergen der „deutschen Volkssagen“ spricht. Der Literaturwissenschaftler und Volkskundler Rudolf Schenda meinte dazu im Jahr 1984 [1]:

 

 „Mehr und mehr wissen wir heute, daß dieses ‚Volksgut‘ nur vielfach gefiltert zu uns gelangt ist, gemahlen durch die Denkmühlen bürgerlichen Bewußtseins und neu gekocht oder gebacken für ein Publikum, dessen Interessen nur selten identisch waren mit denen des Volkes.“ 

 

Der Historiker Klaus Graf kommt unlängst gar zu dem Schluss, die Grimms hätten die Literaturgattung der Sage durch ihr rigoroses Redigieren praktisch erfunden [2]:

 

„Vor 1800 von Sagen zu sprechen, halte ich für irreführend.“

Und:

„Wenn es um ‚historische Sagen‘ aus der Zeit vor 1800 geht, sollte man von ‚historischen Überlieferungen‘ sprechen.“

 

Im Zuge einer zunehmenden Popularität von Märchenbüchern und fantastischen Geschichten wurden Kindern und Erwachsenen auch vielfältige Illustrationen der geschilderten Begebenheiten präsentiert. Nicht zuletzt durch solche Zeichnungen vereinheitlichte sich das Bild des Zwerges im 19. Jahrhundert. Kräftig beigetragen hat sicherlich auch die Produktion von tönernen Gartenzwergfiguren für den Massenmarkt, die 1872 im thüringischen Gräfenroda begann und die rotzipfligen Männchen zunehmend zum Bewohner kleinbürgerlichen Vorgärten machte.

Die Zipfelmütze

Mit der Zipfelmütze möchte ich an dieser Stelle kurzen Prozess machen. Sie ist ein spätneuzeitliches Attribut für Zwerge im Allgemein und Gartenzwerge im Besonderen. Wenn man die Kopfbedeckungen von Zwerge in Illustrationen aus verschiedenen Zeitepochen anschaut, so wird schnell klar, dass Zwerge ganz offensichtlich mit der Mode gehen. In den frühesten Darstellungen von Zwergen als Figuren verschiedener mittelalterlicher Epen und Heldenromane sind diese entweder ohne Kopfbedeckung oder mit verschiedenen Mützen, Kappen oder Helmen dargestellt. Es gibt auch frühe bildliche Darstellungen von Zwergen außerhalb dieses Kontextes; oftmals müssen diese jedoch den "Hofzwergen" oder dem sogenannten „fahrenden Volk“ zugerechnet werden, wie etwa die Gobbi-Blattserie des lothringischen Grafikers Jacques Callot aus dem frühen 17. Jahrhundert. Fraglich ist dabei, inwieweit Darstellungen kleinwüchsiger Menschen mit denen von mythologischen Zwergen überlappen bzw. diese beeinflusst haben. In den schriftlichen Quellen des Mittelalters oder der frühen Neuzeit ist von Kopfbedeckungen der Zwerge selten die Rede, so dass sich kein klares Bild ableiten lässt. Die Zwerge der mitteleuropäischen Sagenwelt, die wir überwiegend aus den Texten des 18. und 19. Jahrhunderts kennen, tragen oft überhaupt keine Kopfbedeckung. Und wenn doch, dann orientiert sich diese am jeweiligen Stand und kann ein Helm (z.B. Ritterzwerge) oder eine Kappe unterschiedlicher Machart (z.B. Hofzwerge) sein.

 

Wie der Zwerg zur Zipfelmütze kam, ist dennoch eine äußerst interessante Angelegenheit. Die Zipfelmütze eine uralte Kopfbedeckung, die sich von der antiken phrygischen Mütze über den keltisch-römischen Kapuzenmantel (cucullus), die mittelalterliche Gugel, die Heidenmütze und die Jakobinermütze bis zur Zipfelhaube der Mainzelmännchen verfolgen lässt. Quasi als Koevolution verläuft die Vorstellung von der Nebelkappe, jenem ubiquitären magischen Attribut von Zwergen das beim Alberich des Nibelungenliedes Tarnkappe genannt wurde und vielleicht sogar eher als Mantel verstanden werden muss. Wie auch immer, die Evolution der Zipfelmütze ist komplex und hat einen eigenen Artikel verdient. 

Interessanterweise bot  die spitze Zwergenmütze der Traumdeutung und der Tiefenpsychologie ein breites Betätigungsfeld. C. G. Jung schrieb dazu beispielsweise [3]:

 

Traditionell ist sie [die spitze Mütze] geworden für unsere heutigen chthonischen Infantilgötter, die Heinzelmännchen (Penaten) und das ganze typische Zwerggelichter. Freud hat uns bereits auf die phallische Bedeutung des Hutes in rezenten Phantasien aufmerksam gemacht. Eine weitere Deutung ist wohl die, daß die spitze Mütze die Vorhaut darstellt. 

 

Richtig ist natürlich, dass Zwergdarstellungen schon seit der Antike eine phallische Komponente enthalten konnten.  Diese basierte jedoch nicht auf der Zwergenmütze, sondern auf der verbreiteten Funktion der Zwergfigur als Fruchtbarkeitssymbol und als Apotropaion, als Schutzfigur gegen böse Mächte. Offenbar sind aber Zipfelmützen – ähnlich wie andere länglich-spitze Gegenstände (Türme, Raketen, Zigarren, Stohhalme, etc) - dazu geeignet, die Phantasie von so manchem Betrachter durchgehen zu lassen. Letztlich erfährt man so eher etwas über dessen Innenleben als über das betrachtete Objekt. Sogar Richter lassen manchmal einen tiefen Blick in ihre Phantasien zu. In einem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 20.04.1988 wurde beispielsweise festgehalten, dass Gartenzwerge durch ihre leuchtend rote Zipfelmütze im sie umgebenden Grün des Gartens auffallen und nicht wenige Menschen in ihren (sexuellen) Gefühlen berühren würden – weshalb sie aus Wohnanlagen zu entfernen seien . Glücklicherweise gibt es auch andere Auffassungen. So urteilte das Amtsgericht Recklinghausen am 18.10.1995, dass normal gestaltete Gartenzwerge keine irgendwie geartete Störung des Gesamtbildes einer Wohnanlage verursachen könnten

Der Zwergenbart in Sagen und Märchen

Schneeweisschen und RosenrotIm Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot" verfängt sich ein Zwerg mit seinem langen Bart in der Spalte eines gefällten Baums. Die Zwerge im Märchen "Schneewittchen" sind, wie bereits erwähnt, ebenfalls bärtig. Bei aller gebotenen Vorsicht (s. o.) scheint man wohl einigermaßen sicher behaupten zu können, dass Zwerge (hierunter sollen auch alle Erdmännchen, Unterirdische, Wichtel, etc gefasst sein) in deutschsprachigen Volkssagen üblicherweise Bartträger sind. Glücklicherweise berichtet auch eine alte Hauschronik von Zwergen, ohne dass sie von übereifrigen Volkskundlern verfälscht worden sein könnte. Die Zimmernsche Chronik wurde Mitte des 16. Jahrhunderts in Schloss Meßkirch geschrieben. Sie enthält eine Reihe von angeblichen Begebenheiten mit Erdmännlein ("erdenmendle"). Im Schloß zu Büdingen soll sich danach einst ein solches Männlein in der Backstube nützlich gemacht haben. Es wird als ein "ein kleins, bartets mendle, ungefärlichen einer elen lang" beschrieben. Als der Schlossherr dem Männchen aber zum Dank einen roten Rock und eine rote Kappe anfertigen ließ, verschwand es. Um hier nochmals einen Rückgriff auf die Zipfelmütze zu machen: Man könnte hier erstens folgern, dass der betreffende Zwerg ursprünglich keine (rote) Kopfbedeckung trug (möglicherweise hatte er zuvor überhaupt keine Kleidung an), sowie zweitens, dass rote Mützen bei Zwergen nicht immer auf Gegenliebe treffen! In einer anderen Zwergenepisonde der Chronik tritt ein Erdmännlein als Schatzhüter auf. Auch dieses wird als bärtig beschrieben ("hat ein langen growen bart  gehap").

  

Tom Thumb (Cock Robin Series), 1888.  Anonymous artist.
Tom Thumb (Cock Robin Series), 1888. Anonymous artist.

 Eine für die Untersuchung des Zwergenbartes kritische Frage ist allerdings, welche Wesen man als Zwerge kategorisiert. Nehmen wir als Beispiel ein anderes kleines Männchen aus einem Märchen: Den "kleinen Däumling".  Die Figur, die schon 1697 als Petit Poucet in der Märchensammlung des französischen Schriftstellers Charles Perrault erscheint, wird üblicherweise als kleiner Junge und damit konsequenterweise bartlos dargestellt. Die Wurzeln des Däumlings sind sogar noch weitaus älter. Reginald Scot listet 1584 in seiner Streitschrift gegen den Hexenglauben "The Discoverie of Witchcraft" zahlreiche Namen von Geisterwesen auf. Darunter befindet sich auch, zwischen dem Puck ("the puckle") und dem Hob-Goblin, ein "tom thombe". Als Tom Thumb sitzt er in englischen Märchen sogar als Ritter am Tisch von König Arthus [4]:

 

In Arthurs Court Tom Thumb did live,

a man of meikle might,

The best of all the Table round,

and eke a doughty Knight.

 

 

Der winzige Tom Thumb wird in Illustrationen meist als Höfling dargestellt: Bartlos, dafür aber oft mit prächtigen Hüten oder Helmen.

Mittelalterzwerge und ihre Bärte

Ortnit und Alberich.
Ortnit und Alberich.

Tom Thumb führt uns nahtlos zum sogenannten "dienenden" Zwergtypus, der im Mittelalterroman oft als Angestellter an Herrscherhöfen auftaucht. Als Beispiel mag hier der Zwerg Melot aus dem Tristan-Epos dienen. Frühe Wandmalereien und Holzschnitte zeigen ihn höfisch-elegant und glattrasiert. Der Zwerg aus dem Wigalois Roman, der ansonsten vornehm gekleidet ist, hat dagegen einen wachsgelben Bart und bis zum Gürtel herabhängendes, langes Kopfhaar.

 

 Bärte sind häufig auch bei einem anderen  Zwergentypus anzutreffen, den man als "Heldenzwerg" beschreiben könnte. Ein Beispiel für diesen Typus ist Zwerg Alberich aus der Siegfriedsage. Der Heldenzwerg ist meist kein Hofangestellter (Alberich als Bediensteter von König Nibelung im Nibelungenlied ist in dieser Hinsicht tatsächlich eine Ausnahme), sondern arbeitet auf eigene Rechnung. Im Heldenroman spielt er oft die Rolle des (manchmal auch widerstrebenden) Helfers: Er führt den Helden zum Drachen oder zum Riesen, er hilft mit magischen Wurzeln oder Tarnkappen, oder er hat sogar ein magisches Schwert zur Hand. Leider haben aber auch in dieser Kategorie nicht alle Zwerge einen Bart. In der Ortnit-Sage wird von einem Zwergenkönig namens Alberich (in machen Fassungen auch Elberich) erzählt, der in seiner Schatzkammer im Kaukasus  ein sagenhaftes Schwert verwahrt. Dieser Alberich wird als schön beschrieben, von Aussehen her wie ein vierjähriges Kind und mit kostbaren Gewändern angetan. Tatsächlich wird er zu Anfang der Erzählung auch mit einem Kind verwechselt, was wohl ausschließt, dass er bärtig gedacht werden sollte.

 

 Ein weiterer Zwergentypus, den man den "wilden Zwerg" nennen könnte, tritt uns in der Legende von Brandan dem Seefahrer entgegen. Das mittelhochdeutsche Gedicht aus dem 12. Jahrhundert (die sogenannte Reise-Fassung)  berichtet von einem sehr hässlichen Zwerg Botewart (in anderen Fassungen auch Bottwart, Pertwart oder Pertward):

 

der getwerc der hiez Botewart.

vil michel groz was im sin bart

und daz har also lanc.

 

Interessanterweise ist der Zwerg eine deutsche Hinzufügung. Die Sage vom heiligen St. Brendan ist eigentlich irischen Ursprungs (irisch: Naomh Bréanainn), in den erhaltenen irischen und den (älteren) lateinischen Fassungen fehlt die Zwergenepisode jedoch völlig. Noch "wilder" ist der  Zwergenkönig aus der Herla-Sage.  Er hat ein feuerrotes Gesicht und einem langen roten Bart, der ihm bis zur Brust reichte. Darüber hinaus reitet er einen Zigenbock, trägt lustiges gepunktetes Rehkitzfell und hat selber Ziegenhufe statt Füße. Man kann man unschwer die Attribute des griechischen Hirtengottes Pan erkennen, der Zwerg wird hier als alter heidnischer Dämon interpretiert.

 

Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Bart kein übergreifendes Merkmal für Zwerge der mittelalterlichen Literatur ist. Allenfalls könnte man eine gewisse Häufung in der Darstellung bärtiger Zwerge feststellen, wenn diese besonders hässlich oder besonders mächtig sind. In diesem Sinne könnte man wohl auch die Wandmalereien auf Schloss Runkelstein in Bozen interpretieren. In einem Freskenzyklus, der vermutlich Anfang des 15. Jahrhunderts entstand, ist die Geschichte von Ritter Garel vom blühenden Tal dargestellt. In einer Szene, die von der Befreiung von Klaris und Duzabel handelt, ist Garel neben drei Zwergen dargestellt. Einer von ihnen, der Zwergenkönig Albewin, trägt einen (allerdings nicht besonders langen) Bart und einen Helm. Die beiden anderen Zwerge sind bartlos.

Man(N) trägt BArt

Der Bart des zuvor genannten Zwergenkönigs Albewin verweist auf eine grundsätzliche Problematik. Ist die bildliche Darstellung von bärtigen Zwergen überhaupt von irgendwelcher Relevanz? Denn in der Frage nach der Bedeutung des Zwergenbarts schwingt ja mit, dass dieser den Zwerg irgendwie hervorhebt oder auszeichnet. Würden alle männlichen anthropomorphen Wesen (die putative Existenz von Zwergfrauen möchte ich hier einmal ausklammern) immer mit gleichartige Bärten dargestellt, wäre die ganze Frage natürlich vollkommen sinnlos. Andernfalls jedoch würden sich einige möglicher Erklärungen für den Zwergenbart anbieten. So wurde etwa vermutet, dass Zwerge mit Bärten dargestellt wurden, um sie von Frauen oder Kindern zu unterscheiden. Diese Erklärung wäre allerdings wohl nur auf bildliche Darstellungen anwendbar und liesse die Frage nach literarischen Zwergenbärten unberücksichtigt. Zwergenbärte könnten Weisheit, Macht oder magische Kräfte symbolisieren (man denke an die üblichen Bärte von Weisen, Königen und Zauberern). Allerdings träfen diese Merkmale nur auf eine Minderheit bärtiger Zwerge zu. Bärte könnten weiterhin einfach nur die Zugehörigkeit ihres Trägers zur Gruppe der erwachsenen Männer andeuten. Diese Symbolik würde allerdings nur Sinn machen, wenn die Rezeption des Zwergs in eine Epoche fällt (oder auf eine Epoche verweist), in der Männer üblicherweise Bärte trugen. 

 

Kaiser Barbarossa (Kyffhäuserdenkmal) [Quelle: Wikipedia]
Kaiser Barbarossa (Kyffhäuserdenkmal) [Quelle: Wikipedia]

Kulturgeschichtlich ist der Bart Zeichen der Macht und sexuellen Reife. In patriarchalischen Gesellschaften  wurde mit ihm ein natürlicher biologischer Sexualdimorphismus zur Legitimation der männlichen Herrschaft deklariert. Im alten Ägypten waren die Männer im Allgemeinen glattrasiert. Nur der Pharao klebte sich als Zeichen der Macht und Gottgleichheit einen Zeremonialbart an. Wenn also ägytische Zwerge einen Bart gehabt hätten, wären sie vermutlich wegen Gotteslästerung sofort geköpft worden. Auch die Römer waren wohl überwiegend bartlos. Traditionell fand in allen sozialen Schichten die erste Rasur im Alter von 20 Jahren statt, und der erste Bart wurde den Göttern geopfert. Die Barttracht vom Mittelalter bis in die Neuzeit unterlag einem ständigen Wandel [5]. Zur Zeit des Frankenreiches trugen die Herrscher, wie auch Vertreter der höchsten geistlichen und weltlichen Stände jener Zeit, meist einen Bart. Männer aus dem Mittelstand waren überwiegend bartlos, und erst die Unterklasse sowie die Juden, die man zu dieser Zeit im Allgemeinen ebenfalls dazu zählte, war wiederum bebartet. Priester wurde nach dem großen Kirchenschisma im 11. Jahrhundert von den weströmischen Päpsten generell die Rasur verordnet, um sich von den langbärtigen orthodoxen Geistlichen Ostroms abzugrenzen. Währen der Stauferzeit änderte sich dieses Bild zunehmend. Trugen Herrscher wie Friedrich I., genannt Barbarossa (sic!), zuerst noch einen ausgeprägten Bart, so setzte sich unter der Ritterschaft und dem höheren Bürgertum eine altersabhängige Barttracht durch. Junge Adelige waren glatt rasiert, in mittleren Jahren trug man einen vornehm gestutzten Kinn- und Wangenbart, und nur die ältere Ritter ließen sich einen langen Vollbart wachsen. Der Zisterzienser Alanus ab Insulis schrieb um 1160, dass junge Männer "dem spießenden Bart mit dem Rasiermesser mit steter Heimtücke nachstellen". Mitte des 14. Jahrhundert stemmte sich die Stadt Speyer gegen den aufkommenden Trend zu Kinnbärten mit einer Anordnung, dass "kein Mann einen Bart oder Scheitel tragen soll" [6].  Im 16. Jahrhundert trug man in Deutschland quer durch alle Klassen wieder Bärte - entweder als Vollbart oder modisch-elegant einen Lippen- und/oder einen zugespitzten Kinnbart. Ab etwa dem 18. Jahrhundert waren die Männer wohl mehrheitlich wieder rasiert, während der Bart im 19. Jahrhundert eine Wiederauferstehung feierte.

Fazit

Für die Zwergendarstellungen im höfischen Roman und im Heldenepos ist man versucht, eine Parallele zu den gesellschaftlichen Konventionen der Haartracht im frühen Mittelalter zu ziehen. Denn Zwergenkönige haben in diesen Texten fast immer Bärte, dienende Hofzwerge eher nicht,  und die wilden Naturzwerge sind wiederum überwiegend Bartträger. Ob allerdings die Romanautoren ihre Zwerge intentional bebärtet haben, oder ob die Figuren einfach nur ihren menschlichen Vorbildern nachempfunden wurden, muss dahingestellt bleiben. Der Alberich der Ortnit-Sage ist natürlich absichtlich bartlos beschrieben, da die Handlung der Erzählung dies erfordert. Aber der Alberich der Siegfried-Sage könnte theoretisch sowohl bärtig als auch bartlos geschildert werden. Andererseits rückt er als Besitzer einer Tarnkappe dicht an einen Magier - eine Figur, die traditionell als bärtig gesehen wurde, da Haar und Bart seit altersher und noch bis weit ins Mittelalter als Sitz magischer Kräfte galten [7].

 

Generalisieren kann man diese Feststellung jedoch nicht. Dagegen spricht schon die bereits erwähnte Tatsache, dass altnordischen Zwerge (trotz magischer Fähigkeiten) nie als bärtig beschrieben werden. Am plausibelsten ist vielleicht die Vermutung, dass (bärtige?) Wald- und Naturgeister einer frühen christlich/heidnischen Glaubensvorstellung, möglicherweise auch unter Zuhilfenahme bestimmter antiker Anschauungen, im Verlauf des Mittelalters dem Volksglauben zu einer bestimmten Vorstellung über die Gestalt von Zwergen verhalfen. Spätestens im 16. Jahrhundert wurden die Zwerge (Erdmännchen) dann schon so beschrieben, wie man sie auch ind den zahlreichen, im späterer Zeit verschriftlichten, Volkssagen findet. In der höfischen Literatur, die sich sowohl hinsichtlich ihrer Autoren als auch ihrer Leserschaft in einem adeligen oder zumindest gebildeten Umfeld bewegte, nahm der Zwerg eine etwas divergierende Entwicklung. Die Zwergenfigur wurde zu einem überaus beliebten "Türöffner" für den Fortgang der Handlung, musste jedoch dafür an den literarischen Kontext sowie an die jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen an Gestalt und Gesinnung angepasst werden. Sollte es in der keltogermanischen Mythologie jemals so etwas wie einen Zwergenprototyp gegeben haben, könnte man vermuten, dass die mitteleuropäische Folklore mehr von diesem Typus bewahrt hat als die Romanliteratur. Ob dieser Prototyp einen Bart trug, werden wir wohl nie erfahren. Aber ich würde tippen, dass er keine Zipfemütze auf dem Kopf hatte.

Referenzen

[1] Schenda, R. (1984) Volkserzählung und nationale Identität: Deutsche Sagen im Vormärz (1830-48). Fabula 25(3): 296-303
[2] Graf, K. (2011) Urschel, Nachtfräulein und andere Gespenster. Überlieferungen und Sagen in Reutlingen und Pfullingen. Reutlinger Geschichtsblätter NF 50: 209-250.
[3] Jung, C. G. (1911) Wandlungen und Symbole der Libido: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung (3). S. 165
[4] Tom Thumb, His Life and Death [...] Chapbook, London, 1630
[5] Falke, J. (1858) Haar und Bart der Deutschen, Anzeiger f. Kunde der deutschen Vorzeit, Vol. 5
[6] Gnegel, F. (1995). Bart ab: zur Geschichte der Selbstrasur. Begleitbuch zur Wanderausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
[7]  Bächtold-Stäubli, H. and E. Hoffmann-Krayer (1927-1987). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Stichwort: Bart

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